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Wohltuende Nebenwirkungen alter Hausmittel

Von Sabine Rahner, Andrea Käufer, September 2012
veröffentlicht von http://www.erziehungskunst.de

Die stürmischen und nasskalten Herbsttage markieren alljährlich den Startschuss für die immer wiederkehrende Erkältungswelle. Hüstelnde und fiebernde Kinder brauchen jetzt besondere Zuwendung und Pflege – eine zusätzliche Herausforderung für die Familie. Auch wenn kranke Kinder unseren wohl organisierten Alltag durcheinander bringen, so birgt diese erzwungene Pause eine wertvolle Chance, inne zu halten.

Ihren Sonntagsausflug hat Familie P. in vollen Zügen genossen. Im Park waren die Kinder den ganzen Tag durch Pfützen gesprungen, hatten sich im Herbstlaub gesuhlt und körbeweise Kastanien gesammelt. Jetzt sitzen Anna, Bea und Philipp mit geröteten Backen müde und zufrieden beim Abendbrot. Als die Schlafenszeit näher rückt, fängt die fünfjährige Bea an zu frösteln und Mutter Elke bemerkt ihre glasigen Augen. Auch die neunjährige Anna beginnt zu niesen und geht ohne weitere Diskussionen erschöpft zu Bett. Bevor die Mutter mit Teenager Philipp das morgige Klaviervorspiel noch einmal durchgeht, bringt sie den beiden Mädchen warme Kirschkernsäckchen. Als sie mit ihrem Mann Ralf am späten Abend das Programm für die kommende Woche bespricht, hört die Mutter ihre Kleinste im Schlaf husten.

In der Hoffnung, dass sich daraus kein Infekt entwickelt, spielt sie in Gedanken nicht nur ihren Wochenplan durch, sondern auch die für Montag bevorstehende Präsentation ihres Projektes im Büro. Am nächsten Morgen ist die leise Ahnung leider doch wahr geworden: Anna hat sich zwar nur einen Schnupfen eingefangen, doch Bea liegt mit über 39 Grad im Bett. Vater Ralf war schon früh zu seiner mehrtägigen Dienstreise aufgebrochen. Elke wird nervös, denn ihr wird klar, dass zum einen ihre Projektpräsentation ins Wasser fällt und sie zum anderen gefordert ist, die ursprünglichen Pläne für diese Woche komplett umzukrempeln. Als erstes steht ein Besuch beim Kinderarzt an …

So oder ähnlich erleben diese Situation heute viele Familien. Häufig ist es die Mutter, die neben ihrem Beruf den größten Teil der Hausarbeit auf sich nimmt. Gleichzeitig versucht sie, allen Kindern und deren individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. So stehen nicht nur Arzt- und Sporttermine oder der Musik- und Tanzunterricht an. Die Kinder mit ihren kleinen und großen Anliegen wahrzunehmen, ihnen zuzuhören, mit ihnen zu sprechen, nach Lösungen für eventuelle Konflikte zu suchen, das alles braucht Zeit und Raum. Bei dem ohnehin schon straffen Programm droht die Krankheit eines Kindes schnell zum Kraftakt zu werden.

Auch Elke befindet sich in dieser Zwickmühle. In der wichtigen Projektphase nicht im Büro zu sein, erscheint ihr zunächst unvorstellbar. Und die fiebernde Bea wird sie auch in den nächsten Tagen nicht in den Kindergarten geben können. Neben der Sorge um das kranke Kind steht die Befürchtung, den beruflichen Anforderungen nicht gewachsen zu sein.

Die Nebenwirkung alter Hausmittel heißt Zeit und Zuwendung

Bei meiner Arbeit als Wickelfachfrau in einer auf Homöopathie und Anthroposophie ausgerichteten Kinderarzt­praxis in Stuttgart begegne ich vielen Eltern, die in dieser Lage neben dem ärztlich-medizinischen Rat gern eine zusätzliche Begleitung annehmen.

Genau hier setzt meine Elternsprechstunde an, in der ich den Eltern Ansprechpartnerin für alle Sorgen bin, die die frühe Kindheit mit sich bringt. Mein Bestreben ist es, Eltern darin zu bestätigen, dass es einfache Dinge sind, die man selbst und mit nur geringem Aufwand tun kann, um die Kinder in der Genesung zu unterstützen. Gerade die fast in Vergessenheit geratenen Wickel und Auflagen eignen sich sehr gut und besitzen eine willkommene Nebenwirkung: Wer diese alten Hausmittel anwendet, schenkt den Kindern Zeit und Zuwendung.

In der Kinderarztpraxis agiere ich als Bindeglied zwischen Arzt und Eltern und erkläre, wie einfach und praktisch Wickel und Auflagen anzuwenden sind und wie diese die Selbstheilungskräfte des Organismus anregen können. Bei einem Kind, das immer wieder von Husten geplagt wird, entfaltet ein Ingwer-Wickel seine wohltuende Wirkung. Zusätzlich kann eine Bein- oder Fußeinreibung hilfreich sein, zum Beispiel mit Lavendel bei einem eher unruhigen Kind. Das Kind spürt sich, es wird geerdet. Im Gegensatz dazu empfehle ich für ein ruhiges Kind, das viel Anlaufzeit benötigt, um in den Tag zu starten, eine Einreibung der Füße oder Beine mit Zitrone oder Rosmarin, die für Lebendigkeit und Spritzigkeit stehen.

Wickel, Auflagen, Bäder und Einreibungen können nicht nur als Einzelmaßnahme, sondern vor allem als Begleitung therapeutischer oder schulmedizinischer Maßnahmen die Genesung unterstützen. Nicht zu unterschätzen ist dabei die von der menschlichen Zuwendung und der fürsorglich-liebevollen Berührung ausgehende Wirkung. Wenn Kinder erleben, dass sich ein Erwachsener im Krankheitsfall kümmert, verleiht ihnen das Sicherheit, Vertrauen und Geborgenheit und stärkt die Beziehung und Bindung zur Bezugsperson. Die Kinder bekommen Zeit – Zeit krank zu sein und Zeit, um gesund zu werden.

Heilsame Zwangspause

Doch ich beobachte noch eine weitere sehr angenehme »Nebenerscheinung«: Auch für den Pflegenden kann diese Form der Zuwendung eine wohltuende Wirkung entfalten und inmitten des hektischen Alltags zu einer Entschleunigung führen. Dies berichten die Eltern immer wieder, selbst wenn es angesichts des zusätzlichen Pensums zunächst paradox klingen mag. Doch wenn ich als pflegendes Elternteil für mein Kind eine gemütliche und ruhige Atmosphäre schaffe, überträgt sich diese Ruhe auch auf mich. Viele entdecken dabei, dass die Pflege neben ihrer anstrengenden auch eine angenehme Seite hat. Schließlich bleibt im Alltag kaum Zeit für Fußbäder, Wickel und die damit verbundene innige Nähe. In unserem routinierten Tagesablauf sind wir überwiegend mit Äußerlichkeiten beschäftigt. Der dadurch verursachte Stress vernebelt den Blick auf wesentliche, meist ganz banale Grundbedürfnisse. Nicht nur unsere Kinder, sondern auch wir Erwachsene streben nach Geborgenheit, Sicherheit und Rückhalt. In unserer schnelllebigen Welt verlieren wir in der Hektik den Überblick und vermitteln statt Sicherheit Haltlosigkeit – eine Botschaft, die wir unseren Kindern eigentlich nicht überbringen wollen.

Einfacher haben es Eltern, wenn sie nicht erst im Krankheitsfall lernen müssen, wie man Wickel und Auflagen macht, sondern bereits eine gewisse Versiertheit mitbringen, die sich nicht allein aus einem Buch erschließt. Dazu bietet sich eine Pflegeschulung oder ein Seminar an. Hier erlernen die Teilnehmer die Anwendung im praktischen Tun, und wir Wickelfachfrauen können neben der ausführlichen Anleitung wertvolle Tipps geben, wie sich die Anwendung gut in den Alltag integrieren lässt. Besonders wertvoll ist: Hier kann jeder die unterschiedlichen Wirkungen am eigenen Leib erfahren und selbst beim Lernen genießen. Ich bin regelmäßig begeistert, welche Ruhe und Stille dabei einkehren kann. Für die Teilnehmer steht einen Augenblick lang die Zeit still.

Aus dem Elternkreis höre ich sehr häufig, dass erst eine Krankheit der Kinder die nötige Zwangspause und damit überhaupt eine Möglichkeit zum Nachdenken verschafft hat. Wenn es uns gelingt, aus dem Hamsterrad zu steigen, können wir die bisherige Situation auf den Prüfstand stellen und uns fragen:

• Was kommt in meinem Alltag zu kurz, was mir eigentlich wichtig ist?

• Welche Werte und Qualitäten gehen verloren, wenn wir die meiste Zeit mit Organisieren und anderen Äußerlichkeiten verbringen?

• Welches Bild entsteht in unseren Kindern, wenn sie stets gehetzte Eltern erleben?

• Auf welcher Entwicklungsstufe steht mein Kind gerade?

• Welche Bedürfnisse und Anliegen haben die einzelnen Mitglieder der Familie?

Stress ist kein Naturgesetz

Elke hat sich mit einem befreundeten Elternpaar zusammengeschlossen; sie werden sich in Zukunft gegenseitig helfen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, über einen Tauschring eine Leihoma oder einen Leihopa zu suchen. Vielleicht gibt es auch eine nette Nachbarin, die im Alltag oder im Notfall gern einspringt und Aufgaben übernimmt.

Manchmal braucht es etwas Mut, gegen den Trott anzugehen und nicht alles aus eigener Kraft meistern zu wollen. Dennoch lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie sich Aufgaben reduzieren lassen.

Lassen es die Einkünfte zu, weniger zu arbeiten? Kann ich meinen Arbeitsplatz umgestalten? Kann ich mit meinen Kollegen oder meinen Vorgesetzten sprechen, um den Arbeitsplatz flexibler gestalten zu können? Stimmt mein Anspruch mit meinen Kapazitäten überein?

In welchen Nöten Familien in der heutigen Zeit stecken, erlebe ich tagtäglich bei meiner Arbeit als Elternberaterin. Gerade in Krankheitsphasen oder anderen familiären Notsituationen geraten Eltern an ihre Grenzen. Doch wir können daraus auch wichtige Impulse für den Alltag mitnehmen: Lernen, wie wir uns besser organisieren, dass wir Hilfe suchen und annehmen dürfen und vor allem, wie wichtig Atempausen sind.

Zu den Autoren: Andrea Käufer arbeitet als Wickelfachfrau und als Elternberaterin in einer auf Homöopathie und Anthroposophie ausgerichteten Kinderarztpraxis in Stuttgart. Sabine Rahner arbeitet als freie Journalistin.